Zunächst einmal alles in Frage zu stellen, was bis dato da gewesen ist und bloß nicht glauben, dass es damit die nächsten 30 Jahre so weitergehen kann.
Ob es große Visionen gab, möchte ich bezweifeln. 1946 war der zweite Weltkrieg gerade erst überstanden, es herrschte ein massiver Mangel und jeder versuchte einen Weg für seine Zukunft zu finden. Diesem Vorhaben schlossen sich auch die damaligen Gründer an. Soweit ich das nachvollziehen konnte, stammten sie aus dem Werkzeugmacherhandwerk: Sie waren von der Vorstellung getrieben die Industrie, die zu dem Zeitpunkt wieder zart aufblühte, mit den notwendigen Gerätschaften zu versorgen. Somit bestand die Herausforderung darin, das Wenige, was es zu verteilen gab, überhaupt erst einmal zu finden. Wir sprechen hier über einen absoluten Verkäufermarkt, denn oftmals war derjenige König, der irgendetwas bekam. Ich erinnere mich an die Erzählungen meines Großvaters, dass in den 60ern und 70ern der Monatsumsatz davon bestimmt war, ab welchem Zeitpunkt die Mitarbeiter am Samstag keine Motivation mehr hatten zu fakturieren. Denn sie hätten immer weiter fakturieren können.
Es wäre vermessen über 75 Jahre zu sprechen, da mein erster Arbeitstag 30 Jahre her ist, von denen ich seit 20 Jahren Geschäftsführer bin. (Alexander Pawel lacht)
Doch, was ich sagen kann, Lingemann ist schon immer ein familiär und mittelständig geprägter Großhandel gewesen, der einen eher allgemeinen Versorgungscharakter hatte. Vom Privatkunden bis zum großen Automobilhersteller wurde jeder beliefert. Wir sahen uns früher als rein lokalen Versorger. Der rote Faden, den Lingemann also getragen hat, war der Versorgungsgedanke mit technischen Verbrauchsausrüstungsgütern für lokale Kunden.
Ende der 90er Jahre hat dies sein Ende gefunden. Wir haben uns immer stärker auf die Industrie fokussiert und im Grunde genommen den lokalen Versorgungsgedanken nach und nach durch die bundesweite bis hin zur europaweiten Versorgung ersetzt. Das ist die Entwicklung von Lingemann.
Immer weniger. Ich bin davon überzeugt, dass es unglaublich naiv ist permanent Dinge aus der Vergangenheit abzurufen und diese Erfahrungen in die Zukunft ableiten zu wollen. Natürlich, wir sprechen über Traditionen, auf die man auch stolz ist. Z. B. haben wir mal aus Spaß hochgerechnet, wie hoch die Lohnsumme ist, die Lingemann in all den Jahren an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überwiesen hat. Wir sprechen hier von weit über 100 Millionen Euro – so gesehen kann man auf diese Leistung der vergangenen 75 Jahre schon stolz sein.
Allerdings trete ich dem Transport von Vergangenheitswerten in die Zukunft sehr skeptisch gegenüber. Werte wie loyales und treues Verhalten, das sind Dinge, die auch in der Zukunft gefragt sind. Jedoch verändert sich so vieles, immer mehr disruptive Technologien brechen alte Märkte auf und verändern von jetzt auf gleich alles. Deshalb sollte alles, was bis jetzt an Erfahrungsschätzen da ist, immer wieder in Frage gestellt werden, manches wird durch neue Technologien sogar ad absurdum geführt. Kurz gesagt: Was früher mal als unverzichtbar galt, wird heute oft keinen Bestand mehr haben. Ein äußerst schwieriges Thema, weil das in letzter Konsequenz wenige wahrhaben wollen. Doch genau das wird so eintreten, meines Erachtens nach. (Alexander Pawel nachdenklich)
Ich bin davon überzeugt, dass man grundsätzliche Charakteristika wie Pünktlichkeit und Fleiß, all diese Dinge, die heute so altbacken klingen, auch in der Zukunft benötigt. Aber den Gedankengang, dass die Erfahrung als besonderer Schatz zu betrachten ist, den es zu bewahren gilt, würde ich so nicht mehr unterschreiben. Heutzutage stellt Erfahrung oftmals unseren größten Hindernisblock dar, da wir schlicht und ergreifend glauben, dass das, was wir 20 Jahre lang gemacht haben, die nächsten 20 Jahre genau so funktioniert.
Erfahrung ist grundsätzlich etwas Wertvolles und Positives. Im beruflichen Bereich ist sie jedoch mit äußerster Vorsicht zu genießen.
Woran ich mich sehr gerne erinnere, ist unsere Feier zum 50. Jubiläum, noch vor der Jahrtausendwende im Kölner Gürzenich. Auf der Bühne vor etwa 1200 Menschen zu stehen und im Anschluss mit den Höhnern (Kölner Musikgruppe) zu feiern. Ich muss gestehen, das ist ein Erlebnis, das für immer in Erinnerung bleibt. (Alexander Pawel dankbar)
Viele Vertriebstagungen, die inhaltlich anstrengend und zugleich unheimlich befruchtend und lustig waren, gehören auch dazu. Generell kann man sagen, dass es schon immer unser Wille gewesen war viel zu arbeiten, aber auf der anderen Seite auch ein angenehmes und vor allem menschliches Klima zu haben. Die Herausforderung ist dabei, nicht so schnell ins Alberne abzudriften – so ist es nie gemeint gewesen, das versteht leider nicht jeder. Ansonsten erinnere ich mich auch gerne an die Momente zurück, an denen wir den langersehnten Zuschlag von einem Kunden bekommen haben, für den wir so lange gekämpft haben. Es gibt einige Momente, an die ich mich gerne zurückerinnere.
Der größte Erfolg ist gewesen, dass es uns damals gelungen ist einen klassischen lokalen Händler für mehrere Warengruppen in einen Bundes-, in Teilen auch europaweit fähigen Lieferanten zu transformieren, der über Warengruppen hinaus denkt: Der ebenso logistische Prozesse berücksichtigt und auch die sog. letzte Meile mit in seine Konzepte integriert. Im Grunde genau das, was wir heute wieder brauchen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich am Anfang, in den ersten ein bis zwei Jahren, von allen Seiten hörte: „Das geht nicht“, „Das was ihr vorhabt, geht nicht!“, „Es kann nicht einer alles liefern!“. Jetzt haben wir gezeigt, seit vielen Jahren, sogar Jahrzehnten, dass das sehr wohl geht. Aber anfangs gab es enorme Widerstände, von allen Seiten.
Tatsächlich waren es nicht die Investoren, die vor dieser Transformation zurückschreckten. Sie erkannten die Notwendigkeit. Die größte Überzeugungskraft musste bei Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie gleichermaßen bei Kunden geleistet werden, denn es war ja völlig ungewohnt. Zudem, wenn immer suggeriert wird, dass bestimmte Lieferanten bestimmte Artikel und Warengruppen liefern und für andere Dienstleistungen andere Lieferanten benötigt werden - dann ist das völliges Neuland: „Das alles soll jetzt doch einer können?!“, „Warum kann der jetzt plötzlich auch eine Warenausgabe machen?!“, „Wie, dafür brauche ich doch einen weiteren Dienstleister?!“, „Warum kann das jetzt derselbe machen?“.
Ein langer Atem, Geduld und Überzeugungsarbeit. Doch ich durfte auch die Mitarbeiter nicht außer Acht lassen. Natürlich sind die Probleme, die man kennt und mit denen man jahrelang kämpft, uns manchmal angenehmer als das Risiko und der Mut, der aufgebracht werden muss, etwas Neues auszuprobieren. Doch da musste mein Team durch. (Alexander Pawel schmunzelt)
Denn ich hatte schon immer eine gewisse Maxime, wobei diese natürlich falsch sein kann: Wenn man das Gefühl hat, auf einen Abgrund zuzugehen, löst es nicht das Problem, wenn man versucht immer langsamer zu laufen oder kleinere Schritte zu machen. Das wird den Zeitpunkt tatsächlich etwas nach hinten verschieben, aber es wird das Drama nicht grundsätzlich verhindern können. Also biege ich lieber ab, um in der Metapher zu bleiben, und befinde mich plötzlich im Dschungel. Ich weiß zwar nicht, was mich da erwartet. Aber ich weiß genau, was passiert wäre, wenn ich es nicht getan hätte. Ich falle irgendwann runter. Eventuell versuche ich vielleicht, den Zeitpunkt um fünf Jahre zu strecken und anschließend wieder um drei, aber irgendwann falle ich – das steht außer Frage. Also muss ich abbiegen. Das wurde schon öfter als sehr mutig beschrieben. Ich sehe das ein bisschen anders, denn für mich ist das einfach nur konsequent zu Ende gedacht – daher das Abbiegen.
Und genau das passiert heute wieder. Wir stellen fest, dass wir mit unseren ehemaligen Geschäftsmodellen an Grenzen gestoßen sind und hinzu kommen Entwicklungen, auf die wir keinen Einfluss haben. Das ist nun einmal der Lauf der Zeit. Wir müssen uns daher überlegen, wie können wir damit umgehen, wie können wir dem begegnen? Das ist meine Herangehensweise und die Richtung, die ich einschlagen möchte.
Genau darauf bin ich stolz, dass es uns damals gelungen ist diese Transformation umzusetzen. Eine enorm wichtige Blaupause, denn genau das leisten wir gerade erneut. Zum zweiten Mal.
Für andere Unternehmen ist es eine Premiere. So gesehen kann man schon fast sagen, wir haben es leichter, weil wir das Wissen haben, dass so etwas gelingen kann. Denn es ist uns schon einmal gelungen!
Das nächste Projekt ist genau diese Transformation. Als einigermaßen ergrauter, eher haarloser Mensch – sogar gerne haarloser Mensch, zumindest auf dem Deckel (Alexander Pawel lacht) – noch einmal zu zeigen, dass genau das gelingt, dass man sich eben umstellen muss. Insbesondere als 52-Jähriger dieses Vorbild sein zu dürfen. Denn es ärgert mich sehr, dass oftmals gerade meine Generation verzweifelt krampft und klammert. Es kann so nicht weitergehen, sie wissen es längst. Doch irgendwie bleibt die Hoffnung, dass der Kelch nochmal an einem vorübergehen möge. Aber welche Folgen hat dieses Festhalten in den nächsten 10 Jahren? Welche Steine legen wir nachfolgenden Generationen in den Weg, durch das künstliche Aufhalten der Transformation? Kann es sogar dazu führen, dass es das Unternehmen dann gar nicht mehr schaffen kann? Das finde ich unfassbar rücksichtslos.
Deshalb möchte ich das quasi selber vorleben. Anderen zeigen, dass wir so nicht weitermachen können. Wir müssen uns heute auf andere Dinge fokussieren. Sachen, die mal irrsinnig wichtig waren, haben heute keine große Bedeutung mehr. Genau das vorzuleben, einen neuen Weg zu beschreiten, das ist die größte Herausforderung, der ich mich stellen möchte.
Alles bewegt sich weiter. Ein Blick in den privaten Bereich zeigt es hervorragend – wie hat man eine Reise vor 20 Jahren gebucht, wie buchen viele sie heute? Im privaten Bereich nehmen wir Veränderungen sehr gerne an. Jeder besitzt heutzutage ein Smartphone, klar, Ausnahmen soll es geben. Doch im beruflichen Kontext möchten wir gerne, dass sich möglichst wenig verändert. Wie passt das zusammen?
Oft verfallen wir Menschen in unsere alten Muster. Das ist wie in einem Käfig, der uns gefangen hält – „das war doch immer so.“
Gestalten zu können, das ist zweifelsohne etwas, was mir sehr liegt. Ich würde mich absolut nicht wohl fühlen, wenn ich beispielsweise in einem sehr engen Raster, umgeben von „Leitplanken“, arbeiten müsste. Das könnte ich gar nicht. Das gäbe in kürzester Zeit Probleme. Ich verrate jetzt mal ein Geheimnis. Am Anfang meiner Karriere wurde mir mal ein sehr langfristiger Vertrag als Geschäftsführer angeboten. Ohne Erfolg, denn ich habe ihn strikt abgelehnt. Länger als drei Jahre dürfen es nicht sein, sonst braucht man gar nicht erst den Vertrag aufsetzen. Ich konnte auch nur die Warnung aussprechen, dass man wahrscheinlich froh sein würde, mich in einem halben Jahr wieder los sein zu dürfen. Ich bin nicht wirklich konzernfähig. Das wollte der potentielle Vertragspartner nicht verstehen. Ich denke aber, man benötigt eine ehrliche Selbsteinschätzung. Ich bin ein Freigeist, ich muss einfach auch gestalten können – das liebe ich an meinem Job. Es mach mir große Freude, Mitarbeiter zu fördern. Ok - es freut mich weniger, wenn es nicht klappt. (Alexander Pawel verwundert)
Aber genau dieses Entwickeln macht sehr viel Spaß – darauf würde ich sehr ungerne verzichten.
Zuerst einmal Gesundheit, zunächst natürlich für meine Familie. Im nächsten Schritt schließe ich tapfer alle anderen auf der Welt ein, wohl wissend, dass es ein unrealistisch hohes Ziel ist. Gesundheit ist etwas, dass man mit fortschreitendem Alter immer mehr zu schätzen weiß. Wir Menschen sind schon komisch gestrickt: solange es uns gut geht, ist uns das Thema Gesundheit nicht so wichtig. Doch wenn dann mal etwas nicht funktioniert, erhält das Thema eine ganz neue Stellung in unserem Leben. Insofern ist das für mich das A und O.
Ich denke, dass wir in unserem Land die Tatsache nicht mehr zu wertschätzen wissen, dass wir in einer Zeit des längsten Friedens ever leben. Das hat es noch nie gegeben! Viele Generationen, selbst mein Jahrgang, kennen es nicht mehr anders. Ich glaube, dass das mittlerweile ein Problem ist, da der Gedanke an Kriegskulissen in Deutschland abstrakt geworden ist. Wenn wir uns jedoch umschauen, wie viel Krieg um uns herum herrscht – dann ist das gar nicht mehr so abstrakt. Für uns wünsche ich mir, dass der Frieden noch lange erhalten bleibt.
Was wünsche ich mir noch für die Zukunft? Eine vernünftige Balance zwischen dem, was wirtschaftlich gebraucht wird und dem, was ökologisch umgesetzt werden sollte. Damit es diese Welt noch in 100 Jahren gibt. Denn ich habe auch Kinder und was sollen sie machen ohne lebenswerte Welt in 30 Jahren?
Ein weiterer Wunsch ist ein wenig mehr Verständnis der Generationen füreinander. Wenn ich mich umschaue, gibt es bereits viele junge Menschen mit extremen Vorstellungen: Umgekehrt existieren zahlreiche Menschen im fortgeschrittenen Alter, die leider auch sehr rücksichtlos sein können. Rücksichtlosigkeit im Straßenverkehr oder leider auch in der Werbung. „Zuerst komme ich“ und Pfennigfuchserei ist attraktiv – verrückt, dass so etwas überhaupt als erstrebenswert betrachtet wird. Jeder kämpft für sich – das Team ist egal – so etwas habe ich satt. Leider zeigt sich das nun ebenfalls während der Pandemie. Natürlich trägt keiner gerne eine Maske. Aber wenn ich durch das Tragen etwas viel Schlimmeres verhindern kann, dann trage ich sie halt. So viele Verstorbene dürfen doch nicht geleugnet werden.
Wir jammern auf hohem Niveau, es geht uns unfassbar gut. Deshalb sollten wir dankbarer sein.
Zusammenfassend: ich wünsche mir, dass sich einiges ändert. Doch ich habe meine Zweifel. Macht mich das zum Pessimisten oder Realisten? (Alexander Pawel nachdenklich) Ich war eigentlich immer Optimist, jedoch genau an dieser Stelle habe ich nicht überragend große Hoffnung. Wir müssen uns vor Augen halten: Was ist unser Beitrag für die Zukunft?
Viel zu oft. (Alexander Pawel lacht) Wenn ich jetzt eine ehrliche Einschätzung dazu abgeben muss: bestimmt 100te Male pro Tag. Das ärgert mich, weil es auf der einen Seite zeigt, wie abhängig wir mittlerweile von der Technik sind. Von so einem kleinen Ding, das ist unfassbar. Ich glaube, es vergeht keine Stunde, in der man nicht auf das Smartphone blickt – es gibt Stunden, in denen der Blick 20-30-40mal auf das Display gerichtet ist. Und es wird immer mehr. WhatsApp z. B. etabliert sich auch beruflich, ob man das möchte oder nicht. E-Mails werden weniger geschrieben. (Alexander Pawel schaut auf sein Handy) Da beschwere ich mich gerade, habe es aber schon wieder gemacht. (Alexander Pawel lacht).
Aber eine Sache finde ich noch immer spannend. Privat bin ich viel in der Natur und es kommt schon mal vor, dass ich das Smartphone im Auto vergesse. Der Gedanke, nun 100 Meter zurücklaufen zu müssen – nein Danke! Der Beweis: ich kann auch drei bis vier Stunden ohne das Ding auskommen.
Neulich hörte ich im Radio, dass Jugendlichen testweise für sechs Stunden das Handy abgenommen wurde. Mit der Folge, dass ein Nervenzusammenbruch dem nächsten Tränentsunami folgte. Was für ein Wahnsinn! An diesem Tag saß ich alleine im Auto und musste laut lachen – die Leute um mich herum hielten mich wahrscheinlich für verrückt. Wo sind wir bloß hingekommen? Dieses Gerät kann doch nicht so viel Raum von mir einnehmen?!
Resultat: ich schaue schon häufig darauf – bin aber auch für Pausen dankbar.